Interview: Michael Moravek

Michael Moravek im Interview

Michael Moravek im Interview über sein neues Album; Fotocredit: Hans Bürkle

Michael Moravek pflegt Nachtgedanken. Gedanken, die voller Widersprüche sind und für ihn universelle Gefühle widerspiegeln, die uns und ihn in schlaflosen Nächten heimsuchen. Aber anstatt sich von anhaltender Schlaflosigkeit überwältigen zu lassen, verwandelt Michael Moravek diesen inneren Kampf in einen kreativen Prozess. Er schreibt Songs. Die nächtlichen Reflexionen lässt er in Musik und Texte einfließen. Sein neues Album „Night Songs“ ist eine fesselnde Sammlung von Liedern, die in der Zeit zwischen der Dunkelheit und der ersten Morgendämmerung entstanden sind.

Wir müssen mit Michael Moravek darüber sprechen. Denn am 24. Januar erschien „Night Songs“ und wir sprechen mit ihm über den kreativen Schaffensprozess, was Spontaneität für ihn bedeutet und wir checken den aktuellen Status des Genres „Americana“ in Deutschland.

Dein neues Album „Night Songs“ erscheint am 24. Januar 2025. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wie die schlaflosen Nächte deine Inspiration für dieses Album wurden?

Michael Moravek: „Nicht immer ist eine schlaflose Nacht oder eine Nacht mit nur wenigen Stunden Schlaf
produktiv – im Gegenteil. Ich kenne dieses Gefühl seit Jahren und habe mich (meist) damit arrangiert. Doch manchmal gibt es Nächte, in denen ich es fast genieße, mich im Wohnzimmer auf das alte Sofa zu setzen, gegen drei oder vier Uhr einen Kaffee zu machen, weil der Schlaf nicht mehr in Reichweite scheint, etwas zu lesen und über Dinge nachzudenken. Die späten Stunden der Nacht und der frühe Morgen können eine besondere, fast magische Atmosphäre bieten. Das ganze Haus schläft, die Welt draußen ist still. Gedanken und Gefühle treten intensiver in den Vordergrund, manchmal übermächtig. In solchen Momenten erscheint es mir, als würde sich meine Sichtweise auf die Welt verzerren, als verschwimme der Blick auf mich selbst. Doch in anderen Momenten erlebe ich das Gegenteil: Meine Gedanken, Intuition und Wahrnehmung, meine Ahnungen und Deutungen erscheinen schärfer, klarer oder auch stärker. Beide Zustände inspirieren mich, auch wenn sie nicht immer angenehm sind, denn sie ermöglichen ein anderes Denken, als es im Alltag
stattfindet. In meinem Kopf dreht sich vieles um poetische Aspekte, die in der Lage sind, Dinge präzise
auszudrücken. Eine Idee zu verfolgen oder ein Narrativ zu entdecken, das mich fesselt, ist ein beglückender Prozess, den ich oft weiterdenke, während der Tag vergeht. Wenn ich also sage, dass diese Songs nachts entstanden sind, bedeutet das nicht, dass ich ihre Entwicklung am Tag nicht fortsetze. Ich kann mich in einem Gespräch befinden, in der Supermarktschlange stehen oder in einer Bar bei einem lauten Konzert – und dennoch kann ich diesen einen Gedanken weiterverfolgen. Den Gedanken, wie ich etwas besser ausdrücken kann, wie ich ein Bild finde, für das einfache Worte nicht ausreichen. Ich sehe, oder besser gesagt, ich ahne das vollständige Bild eines Songs in meinem Kopf. Es gelingt den Aufnahmen von Night Songs, die nächtliche Atmosphäre in ihren lichtvollen und dunklen Facetten einzufangen und wiederzugeben.“

Du hast die Songs minimalistisch arrangiert und in einem kreativen Fluss aufgenommen, ähnlich wie Springsteens Nebraska. Was reizt dich besonders an dieser spontanen Herangehensweise, und wie beeinflusst sie die emotionale Tiefe Ihrer Musik?

Michael Moravek: „Das Aufnehmen von Songs ist ein an sich schwieriges Unterfangen. Es gibt so viele Möglichkeiten und Philosophien darüber, wie ein Song präsentiert und arrangiert werden kann. Zu wissen, auf was man von Anfang an verzichten sollte und was dem Song guttut, dazu brauchen alle Beteiligten ein gutes Gespür und viel Erfahrung. Mich hat der Moment des Entstehens eines Werks schon lange beschäftigt. Festgestellt habe ich das anhand meiner eigenen Demos, mit denen ich es bislang gewohnt war, sie meinen Mitmusiker*innen zu geben, damit sie eine Ahnung davon bekommen, an was ich arbeite und aufgrund der
Demos selbst Ideen entwickeln können. Auf diesen Aufnahmen sind es vor allem die Stimme, Dynamik und Tempo, die manchmal Nuancen beinhalten, die bei einem regulären Arrangement vernachlässigt werden zugunsten einer im Grunde besseren Lösung, bei der alle Instrumente mitbedacht werden. Zudem werden die Songs meist live gespielt, bevor sie endgültig aufgenommen werden. Aber selbst die durchdachten, oft gespielten und mit Sorgfalt arrangierten Songs können nicht dasselbe transportieren, wie die Aufnahmen des
Moments, wenn etwas gerade entstanden ist, wenn die Stimme sucht und betont, ohne dass zu viel Konzentration darauf verwendet wird. Anhand der Stimme höre ich am ehesten, dass sie in der Lage ist eine andere Spannung zu transportieren, wenn ich mich ohne Voreingenommenheit und ohne bereits festgelegte Struktur im Kopf auf den Song einlasse. Diese Momente schleifen sich im Nu ab, wenn du den Song oft singst und spielst. Mich interessieren die ungeplanten Momente, die einfach passieren und Nuancen enthalten
können, die für mich besonders sind. Ich bin seit jeher fasziniert von Springsteens Nebraska, das eigentlich als eine Sammlung von Demos gedacht und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Er konnte aber den Geist, den Ausdruck der Demo-Aufnahmen mit seiner Band nicht reproduzieren. Und wir sprechen von der E Street Band! Was hätte da schon schiefgehen können? Aber die Demoaufnahmen aus einem Schlafzimmer in New Jersey hatten etwas ganz Besonderes, und selbst die E Street Band war nicht in der Lage, sie wiederzugeben. Warren Zanes hat darüber das sehr lesenswerte Buch Deliver Me From Nowhere geschrieben. Ein anderes Beispiel ist, wie Bob Dylan oft gearbeitet hat. Anhand seines Albums Blood On The Tracks und den Geschichten, die es darüber gibt, lässt sich nachvollziehen, wie sehr er dem Moment nachjagt. Die Studiomusiker, die für die Aufnahmen engagiert waren, beschwerten sich, dass sie keine Zeit und auch kein Notenmaterial zur Verfügung hatten, um sich vorzubereiten. Kaum hatten sie die Struktur und Harmonien eines Songs einigermaßen begriffen, wechselte Dylan zu einer völlig anderen Tonart oder änderte die Struktur und einer dieser Takes war dann die Aufnahme, die veröffentlicht wurde. Auf manchen hört man Fehler, und doch sind sie zu berühmten Aufnahmen geworden, weil sie allesamt spektakulär in ihrer Unmittelbarkeit und Dringlichkeit sind. Dylans Stimme ist unglaublich. Es geht nicht um Perfektion, sondern darum, das Interesse des Sängers wachzuhalten. Und die verfügbare Zeitspanne kann kurz sein. Ich habe diese Unterschiede zwischen frisch aufgenommenen Demoaufnahmen (meist mit dem Smartphone) und der Studioversion immer wieder festgestellt. Jemand anderes würde das sicher nicht hören. Aber mir ging es genau darum, als ich die Aufnahmen für Night Songs angefangen habe. Ich bin also mit Nebraska unter dem Arm zu Thomas Fuchs ins Studio gefahren und wir haben es erst einmal durchgehört. Wie man auf Night Songs hören kann, ging es dabei nicht um die Aufnahmequalität, denn sonst hätten wir mit einem alten Tascam 4-Spur-Gerät arbeiten
müssen, sondern es ging um den Moment und um die Frische einer Aufnahme, um das, was passiert, wenn etwas eingefangen wird, das gerade erst auf die Welt gekommen ist. Wir vereinbarten, ich schreibe die Songs und sobald ich einen fertiggeschrieben hatte, komme ich innerhalb von zwei, drei Tagen ins Studio und wir nehmen ihn auf. Ganz zum Schluss, als alle Songs geschrieben und aufgenommen waren, kam meine Band ins Studio und nahm an einem einzigen Nachmittag die zusätzlichen Instrumente auf, die hier und da die Intensität und Intimität der Aufnahmen noch verstärkten. Ursprünglich wollten sie das gar nicht, weil sie
die Songs nicht stören wollten. Aber ich habe großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten und war mir sicher, sie machen es nur noch stärker. So ist Night Songs entstanden und ich finde, das hört man auch.“

Als einer der poetischsten Vertreter des Genres Americana in Deutschland: Wie siehst du den Status dieses Genres hierzulande, und welche Herausforderungen und Chancen gibt es für diese Musikrichtung in Deutschland?

Michael Moravek: Americana ist ein übergeordneter Begriff für Musik, die unterschiedliche Stile, tief verwurzelt in alter US-amerikanischer Tradition, zusammenfasst und verschiedene Ausprägungen
haben kann. Natürlich fließen afrikanische und europäische Einflüsse mit ein, aber so ausführlich müssen wir das hier ja nicht betrachten. Ich denke nie in Genres und es mir seit jeher schwergefallen, mich selbst irgendeinem Stil zuzuordnen. Ich sehe mich in erster Linie als Songwriter. Natürlich schmeichelt es mir, wenn ich als einer der poetischsten Vertreter dieser Richtung genannt werde, weil das Publikum damit etwas anfangen kann. Ich schreibe Songs aus Gründen, die vielschichtig sind. Zwar wurde ich mit Musik sozialisiert, die heute teilweise dem Americana zugerechnet wird wie Dylan, Wilco, Richmond Fontaine, Tom Waits, Lucinda Williams, Townes Van Zandt, Nathalie Merchant und so weiter. Aber alle diese Interpret*innen werden auch hier und da mit anderen Bezeichnungen wie Indie-Rock, Folkmusic, Country, Singer-Songwriter oder sonst welchen Labels versehen. Mein ausschließliches Interesse ist, einen guten Song zu schreiben. Wenn ein Song gut ist, kannst du daraus machen, was du willst, was gleichzeitig eine große Herausforderung ist. Die
Erzählweise, das Narrativ, das sind die wirklich wichtigen Dinge, auf die ich mich am allermeisten konzentriere. Was mich begeistert ist, dass die Songwriter*innen, die ich kenne oder kennenlerne, immer irgendwann diese Frage stellen: „Was kommt zuerst, Text oder Musik?“ Wenn ich sie nicht gestellt bekomme, stelle ich die Frage meinem Gegenüber. Das sind die Koordinaten, die für mich interessant sind, weil sie etwas über den Menschen zeigen, der schreibt und welche Herangehensweise für sie oder ihn primär wichtig ist. Aus
welchem Bedürfnis heraus entsteht ein Werk? Was ist der Antrieb? Aber um nochmal auf die Frage zurückzukommen. Über die Herausforderungen des Genres in Deutschland kann ich nicht viel sagen. Ich beobachte, dass das, was als Americana bezeichnet wird, insgesamt präsent ist heutzutage und vermehrt in Filmen und Serien auftaucht. Wie aber der Status, den das Genre in Deutschland hat, zu bewerten ist, dazu müsste man eine/n Musikwissenschaftler*in fragen oder eine/n Musikjournalist*in, die/der sich dem Thema
verschrieben hat. Wie auch immer, für mich ist Americana ein Überbegriff für bewusste Erzählkunst, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und sein verzweifeltes Suchen nach einem Platz in dieser verrückten, unberechenbaren Welt einfängt.“

Deine Texte sind für ihre poetische und biografische Note bekannt. Wie wichtig ist dir das persönliche Element im Songwriting, und wie beeinflusst das deine eigene Lebensgeschichte der Songs auf „Night Songs“?

Michael Moravek: „Damit ich einen Song schreibe benötige ich einen Anlass. Ein Song muss in der Lage sein,
eine Idee, ein Bild, zu vervollständigen. Inspiration ist alles. Ich jage immer diesem einen Song nach, der der beste, ausdruckvollste, interessanteste und wichtigste wird, den ich je geschrieben habe. Hat mich eine Idee gepackt, lässt sie mich nicht mehr los, bis ich sie vervollständigt habe. Alles andere ordnet sich zwangsläufig unter. Dabei kann ich im Bus sitzen, in einer Bar, in einem Konzert, im Auto. Mein Kopf ist ständig mit dieser einen Aufgabe beschäftigt, wie ich die richtigen Worte zusammenfügen kann, um auf lyrische Weise etwas zu erschaffen, das neu ist für mich. Habe ich keinen Anlass, schreibe ich nicht. Manchmal schreibe ich auf fanklub.de darüber, wie die Songs entstanden sind, die veröffentlicht werden. Dabei stelle ich fest, dass zu einer Entstehungsgeschichte eines Songs so viele unterschiedliche Facetten gehören. Du kannst in drei oder vier Minuten eine ganze Welt erschaffen. Das ist das Besondere am Songwriting. Das biografische Moment ist
für mich wichtig. Aber ich glaube, es war Tom Waits, oder jemand anderer, der gesagt hat, man solle seine eigenen Songs nicht deuten, es käme nicht viel Sinnvolles dabei heraus. Wenn du mich heute nach einem Song und dessen Entstehung und Hintergründe fragst, dann erzähle ich heute das eine und morgen etwas ganz anderes. Und beide Versionen werden der Wahrheit entsprechen. Warum ist das so? Ich weiß nicht, woher der Song kommt. Was ich aber sicher weiß ist, dass er durch mich kommt. Darin verwebt sich ein Konglomerat an Geschichten, Stimmungen, Emotionen, Wahrheiten, Träumen und Alpträumen, Philosophien, Ängsten und Hoffnungen und wer weiß was sonst noch, zu einem einzigartigen Bild. Es ist die Konstellation unendliche vieler Farbnuancen, die eine Arbeit zu einem Werk macht. Alles fließt ineinander und verdichtet sich zu einem Fluss, die Worte fliegen dir zu und du gibst dem Ganzen einen Namen. Es hat eine eigene Sprache. Die Entstehung meiner Songs ist immer autobiografisch, doch das ist nur für mich wichtig. Es gibt mir einen Grund zu schreiben, etwas für mich zu klären oder aufzuarbeiten. Von Belang ist aber, welche Bilder und Emotionen die Songs bei der Hörerin, dem Hörer, auslösen. Das sind die echten Wahrheiten. Ein Song schwebt frei und verbindet sich mit den Geschichten der Hörenden. Darum geht es. Ich stelle mir vor, dass fast alle Menschen Musik auf diese Weise hören.“

Mit der deiner Band Electric Traveling Show hast du eine einzigartige Verbindung von Americana und jazzigen Elementen geschaffen. Inwiefern hat diese stilistische Vielfalt dein neues Album mit geprägt?

Michael Moravek: „Dass ein Teil meiner Mitmusiker*innen ihre Einflüsse aus Jazz mitbringen, hat vor allem
einen großen Einfluss auf die Dynamik der Songs und darauf, dass sie atmen können. Das zeigt sich vor allem in unseren Konzerten. Es gibt keine Egos, jede/r achtet darauf, was die anderen tun. Die Spannung, den Song gut aussehen zu lassen, in ihn hineinzuschlüpfen und für einen Abend eine einzigartige Version daraus zu machen, ist ein Antrieb, aus dem alle eine tiefe Befriedigung schöpfen.“

Nach der Veröffentlichung von „Night Songs“: Wie sehen deine weiteren Pläne für die Zukunft aus? Können wir auf Tourneen, neue Projekte oder andere spannende Entwicklungen gespannt sein?

Michael Moravek: „Ich habe ein ganzes Album mit Songs über Georg Elser verfasst und spiele sie in dem
Theaterstück „13 Minuten – Wie Georg Elser beinahe die Welt verändert hätte“. Das wird wohl das nächste sein, das ich veröffentlichen werde. Aber wenn wir von Momenten sprechen, ich konzentriere mich jetzt ganz auf die Veröffentlichung des neuen Albums und auf die Konzerte, die wir damit spielen werden. Ich freue mich sehr darauf, Night Songs gemeinsam mit Andrej Polanský, Tomáš Skřivánek, Christian Krischkowsky, Wibke Becker und Štěpán Vodenka auf die Bühne zu bringen.“

 

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