Das Reeperbahn Festival – die süßeste Verpflichtung des Jahres
Reeperbahn Festival 2019 – Nachbericht
Speed-Dating innerhalb der Musiksekte
Während man beim Highfield, Dockville, Hurricane und/oder Glastonbury vier bis fünf Tage in seiner eigenen Suppe schwimmt, 1000 Liter Dosenbier mit Sackkarre schiebt, bei etlichen Flunky Ball Turnieren mit den Pavillon-Nachbarn den Titel des diesjährigen Bierkönigs austrägt und maximal 5 von 100 Acts physisch mitbekommt, geht es beim Reeperbahn verhältnismäßig friedlich und behütet zu. Da wird früh morgens der Jutebeutel gepackt, sich ins Hemd gepellt, die Föhnfrisur gestriegelt und mit einer ordentlichen Portion Coolness und Selbstsicherheit Richtung Kiez gedackelt! Das Ganze mag vielleicht daran liegen, dass das Event des Jahres in der schön(st)en Stadt Hamburg ausgetragen wird, direkt auf‘m Kiez, inmitten von Rotlichtmillieu, Punks und diversen Spätis! Wer sich hier für‘s Zelt und somit gegen die schnuckelig ausgestattete, direkt am Kiez liegende und selbst für Hamburg völlig überteuerte 650€ AirBnb entscheidet, fällt in die Kategorie ‚Spinner‘. Die Meisten kommen berufsbedingt, und die allermeisten aus Berlin. Man kennt sich also, es wird gecouchsurft.
Der musikalische Aspekt: Ein einziges Alibi. Aber pssst, jeder Reeperbahn-Besucher mit Schild um den Hals wird dies bestreiten (…) Man nennt sie auch die Delegierten! Uns, die Menschen des Musikbusiness, die sich einmal im Jahr sektenartig zusammenfinden, um wichtige Menschen zu treffen, wichtige Gespräche zu führen und unterm Strich einfach sehr wichtig zu sein! Da wird vier Tage lang ordentlich einer weggenetworked. Und das Tolle daran: es gibt nichts Schöneres.
Deezer-Socken und Facebook-Freundschaften
Ich, das kleine Mäuschen, das mit süßen 20 versucht, ins Musikbusiness zu stolpern, bleibt natürlich sabbernd an jedem Event hängen. Doch hier ist nicht die Rede von einem Live-Auftritt der Giant Rooks oder eines heiligen, Tränchen in die Augen treibenden Kirchenkonzerts der Mighty Oaks, nein nein… Viel mehr ist es das ganze Drumherum, das Über-Den-Spielbudenplatz-Gestolper, das Sehen-Und-Gesehen-Werden und all die Panels, zu denen man eingeladen wird, welche man wahrnehmen kann und/oder muss, aber zumindest sollte. Das größte Speed-Dating Event des Jahres, über vier Tage verteilt! Da kann man nach dem ersten Tag schon mal das Handtuch werfen. Spätestens nach Tag 2 gibt Generation Ü35 auf, packt ihre Goodie-Bag mit den schönen bunten Deezer-Söckchen und fährt mit einem Stapel neuer Visitenkarten, vielen neuen Facebook-Kontakten und einem leichten bis mittelschweren Kater wieder gen Heimat! Nicht umsonst wird das Reeperbahn Festival in zwei Kategorien unterteilt: Konzerte und Konferenzen. Wer Tickets für beides hat, ist entweder steinreich, delegiert oder aber auch beides.
Konzerte vs. Konferenzen
Als stolze Inhaberin beider Tickets, musste ich dieses Jahr feststellen, dass es nahezu unmöglich ist, die Balance zwischen Konferenzen, Konzerten und möglichen Panels zu finden. Grundbedürfnisse wie Schlaf oder Hunger werden direkt außen vor gelassen. Will man zu den Konferenzen, verpasst man die Konzerte. Will man zu den Panels, verpasst man Konferenzen. Will man schlafen, hat man direkt verloren. Die Meisten stellen sich in den vier Tagen einen Zeitplan aus 60 % Panels, 20 % Konferenzen und 10 % Orientierungslosigkeit zusammen. Die verbleibenden 10 % muss man gekonnt in Konzerte, Curry-Wurst Buden und Toilettenbesuche aufsplitten… Und ehrlich gesagt verbringt man mehr Zeit am Waschbecken, als vor der Bühne. Aber hey, alles halb so tragisch! Die ganz, ganz großen Acts hat man als Sekten-Mitglied eh schon hier und da ein, zweimal gesehen. Nur die Foals eben nicht. Und die mussten sich dieses Jar einen Tag vor Festival-Beginn die Hand abhacken. Also, so halb… Aber schlimm genug, um weder Gitarre noch Mikro halten zu können. Buuuh. Derber Rückschlag für die Warner Music Night! Mir nichts Dir nichts musste ein neuer Act aus dem Zauberhut der Warner Hexenküche gezaubert werden. Eins ist klar: Wer die Foals durch Bausa ersetzt, wird die nächsten Wochen nicht viel zu lachen haben. Doch das ist eine andere Geschichte, über die wir nur schmunzeln können…
Neles Beste & Reste
Was haben wir vom Soundkartell eigentlich getrieben? Tja, das ist eine sehr berechtigte Frage! Ich für meinen Teil war gefühlt immer überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Fakt ist, dass ich von den 70 bis 80 geplanten Veranstaltungen gerade mal 30 mitbekommen, und davon 20 bewusst erlebt habe. Der Mittwoch begann mit dem sogenannten Nett-Working Event und entpuppte sich als Cornern vorm Späti, schnacken und sich gegen 13 Uhr mittags tierischen einen reinstellen. Der Begriff „Späti“ wird im Übrigen im weiteren Verlauf dieses Berichts noch etliche Male fallen. Den restlichen Nachmittag bin ich bei den Lieben von Selective Artists kleben geblieben, diese präsentierten nämlich stolz einige ihrer Schützlinge auf dem Silbertablett! Dazu zählten unter anderem Trille und Jeremias. Über Trille werdet Ihr die nächsten Wochen noch einiges lesen können und wer gelegentlich meine Artikel-Vitae verfolgt, wird wissen, dass Jeremias und ich bereits den Bund für’s Leben eingegangen sind, Amen. Kein Wunder also, dass geplante Konzerte mal ganz schnell in den Hintergrund gerutscht sind – man saß Schokolade knabbernd und Jeremias lauschend im Backstage der Spielbude, hatte WLAN, Strom und unbegrenzte Frinks, huch….
So, Donnerstag! Neuer Tag, neuer Versuch, ernsthaft etwas zu reißen. Und diesmal wirklich! Der Tag begann damit, sich heimlich auf das Filter-Boot (Filter Music Group) zu schleichen, ohne dass jemand davon Wind bekommt, dass man dämlicherweise vergessen hatte, sich im Vorfeld dafür anzumelden. Aber ey, vollkommen schnuppe, dank früherer ausgeklügelter Networking-Veranstaltungen verhalfen mir Vitamin B und ein freches Augenzwinkern auf den Kahn, zu weiteren Frinks, drei wundervollen Live-Acts und einer zweistündigen Tour durch den Hamburger Hafen! Danach folgte eine ganze Zeit lang gar nichts, ein Power Nap und drei Folgen Stranger Things auf Netflix. Energiereserven wieder voll aufgefüllt, ging es in den Bunker, zu den Spatzen von Say Yes Dog! War geil, aber auch warm. Auch dieser Auftritt neigte sich dem Ende zu und so zogen 1/3 der Band Pool und ich weiter Richtung St. Pauli Kirche. Auf dem Weg dorthin gerieten wir in die Arme von 2/4 KYTES und versackten mit den Jungs vorzeitig im Silbersack (…) Einige Viertelstunden später waren wir dann nun endlich am Ort der Begierde angekommen. Highlight war jedoch nicht das Cipa-Konzert, welches zugegebenermaßen nicht schlecht war, sondern der Pfarrer, der die männlichen Mitstreiter unter uns flüsternd daraufhin wies, dass sie nie wieder in seinen Garten pinkeln sollten. Um einen ohnehin schon irgendwie komischen, halb verplanten und eher kontraproduktiven Tag abzurunden, gab es keine bessere Band als Bruckner! Zwei Brüder, die mit viel Schnulz und Kitsch Rosamunde Pilcher artig das Leben bedudeln. Mir als verlorene Romantikerin kamen da die Tränchen. Die Höchste Eisenbahn würde sich im Grab umdrehen, wenn sie denn dort schon lägen. Die Ur-Delegierten unter uns, die das Reeperbahn Festival nu‘ schon seit Stunde 1 verfolgen, fanden sich traditionell bereits früh am Abend vor der Panda-Bar zusammen! Das sind die gleichen Gestalten, die vermutlich als einzige jemals die Bar von innen gesehen haben. Eigentlich ist das Ganze nämlich ein hartes Cornern Nähe Panda-Bar, mit der Option, billige Drinks beim Späti gegenüber shoppen zu können – und dieser macht an dem Abend den Umsatz seines Lebens (…)
Wer es schaffte, sich Donnerstagnacht rechtzeitig aus den Fängen des Alkohols, oberflächlicher und womöglich sogar tiefgreifender Gespräche zu befreien, stürzte sich bereits um 9 Uhr morgens wieder in die ersten Panels! Das erste Konzert auf meiner Liste: Dagobert im Sommersalon. Dieses blieb mir jedoch verwehrt, da zuvor die Schweizer mit ihrem Stinkekäse dort einfielen, sämtliche Geruchsnerven abtöteten und zugegebenermaßen ein Gefühl von Aggression in mir auslösten. Trotzdem war der Laden ziemlich schnell ziemlich voll und machte bereits vor Beginn die Schotten dicht! Ein Problem, das mir an dem Wochenende immer und immer wieder begegnete – mit viel, viel Glück und einer dreißigminütigen Wartezeit in einer 100m langen Schlange, hab’ ich’s am selben Abend dann doch noch in den Michel geschafft. Irgendwo hinten links, hinter einer Kapelle und einer Wand aus Menschen, fand ich schlussendlich eine Sitzgelegenheit – die Pechvögel nach mir mussten das Konzert der Mighty Oaks von draußen aus genießen. Obwohl ich nichts gesehen habe und lediglich Stimmchen lauschen konnte, heulte ich dennoch wie ein Schlosshund.
So, Samstag… Drei Tage hätten vom Ding her auch gereicht: Ein Tag voller Konferenzen und noch mehr Konferenzen! Ein spannender Talk über Songwriting Strategien, eine Diskussion über die vielfältigen Umwege in die Musikbranche und – hingegen aller Erwartungen – Sonnenschein satt! Anstatt in irgendwelchen Clubs einzugehen, trieb es mich zu den Containern auf dem Heiligen Geistfeld. Mein persönlicher Favorit: Tutaka Island. „Für ecoistisches Gastgeben“, wie sie selbst so schön auf ihrer Website beschreiben! Dort konnte man mit zwei umwerfend lieben Gurls über das Thema Nachhaltigkeit philosophieren, sich inspirieren lassen und einem feinsten funky Disco-Set von David Bay und DJ Dreams lauschen, zwei hotten Boys, die musikalisch unterstreichten, wie schön Nachhaltigkeit eigentlich sein kann.
Und – Ihr werdet überrascht sein – das war es, das Reeperbahn Festival! Nur mehr, aber auf jeden Fall nicht weniger. Der perfekte Ort, um sich ins Musikbusiness zu mogeln, Leuten ein Ohr abzukauen, herumzukatern oder einfach tollen Acts in einer tollen Atmosphäre zu lauschen. Alle Jahre wieder.