Album: Martin Kohlstedt „FLUR“

Album des Jahres: Martin Kohlstedt – FLUR

Martin Kohlstedt neues Album „FLUR“ im Review; Pic by J. Konrad Schmidt photography

Ich denke ich spreche für viele, wenn ich sage, dass das Jahr 2020 kein leichtes war. Vieles hat sich für uns verändert und das in so unglaublich vielen Bereichen. Ich habe zum Beispiel ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit. Den Tag zu nutzen, wenn man im Lockdown (in Deutschland) sitzt und man sich wirklich penibel an die Vorgaben hält. Da fallen einem schon einige Tätigkeiten ein von Hobbies, die ich schon seit Ewigkeiten wieder mal machen wollte. Ich habe zum Beispiel viel gebastelt, wieder Gitarre gespielt, habe den Balkon bepflanzt und noch viel mehr. Nur irgendwann, hat man sehr viel Zeit, aber man hat gefühlt viel abgearbeitet. Die To-Do Liste, die ja bei jedem gefühlt ewig lang ist, wurde kürzer. Doch nur vom Gefühl her. Denn was ist mit all den Dingen, die nicht möglich waren in 2020? Was ist mit Festivalbesuchen? Deinen Lieblingskonzerten? Was ist mit deinem Reiseziel, das du dir an Silvester 2019 noch an die Wand gezeichnet hast im Kopf? All das schien auf einen Schlag wie verblasst.

Ein Lichtblick war sicherlich auch, dass sich in der Musik vieles getan hat. Künstler*innen mussten improvisieren. Umdenken, neue Channels gründen, ihre Channels grundlegend mit Leben füllen. Künstler*innen mussten sich gefühlt erstmalig wirklich Gedanken machen, wie sie bei der eh schon großen Masse an Content nicht unterzugehen drohten. Etlichen gelang es ganz wunderbar (siehe Igor Levit). Doch es gab sicherlich auch viele, die in eine Art Schockstarre verfielen. Ein Jahr ohne Konzerte? Wie soll das gehen? In Zeiten von Streaming brauch auf einen Schlag eine ganze Einnahmequelle weg, die vermutlich einen Großteil der Einnahmen generierte. Es kam einem Berufsverbot gleich. Es gab aber auch Künstler wie Dan Mangan, die von Woche zu Woche für ihre digitalen Konzerte Eintrittskarten für 5$ verkaufen konnten und damit an einem Abend locker 300-400 Karten absetzen konnten. Das Geld wurde gespendet.

Er relativ spät während der Pandemie kam mir der Gedanke, wie gut es doch jetzt sein muss als introvertierte Künstler*in jetzt Zuhause sein zu müssen und eventuell an einem neuen Album arbeiten zu können. Am 26. November, also rund 8 Monate nach Ausbruch der Pandemie habe ich dann nach zahlreichen Livestreams, Sessions oder dergleichen, endlich wieder ein Konzert gesehen. Auf dem TV, via YouTube, mit einem Glas Rotwein, meiner Partnerin, mit Bettwäsche auf der Couch und zum ersten Mal seit langem stellte sich in mir wieder etwas auf. Ein Gefühl, dass die Künstler*innen ja noch da sind und so ein Konzert heilend sein kann. All der Groll, die Wut, die Angst, Ungewissheit und was nicht noch alles, fiel von mir ab. Da saß er, Martin Kohlstedt auf seinem Klavierhocker und sprach in seiner gewohnt eher zurücktretenden Stimme. “Welcome to my very first streaming event.”. Auch der Weimarer Komponist hat 8 Monate gebraucht, um während Corona ein Konzert live zu streamen. Scheinbar viel zu spät? Mit nichten. Denn hier trat jetzt jemand in das Wohnzimmerlicht (Scheinwerfer standen auch da, ja) aber er saß da in seiner wundervollen Wohnung, mit Lichterkette im Schneidersitz vor seinem Laptop und präsentierte sein neues Werk “FLUR”. Und auf einmal wurde mir wieder klar, wie sehr Musik und ein Mensch, der alles dafür zu geben erscheint berühren kann.

Selten gab es einen Musiker, der mich in den letzten 12 Monaten seit meinem wahrscheinlich schönsten Live-Erlebnis so berührt hat. Oft kullerten die Tränen beim Hören einfach nur so heraus, als wären es Regentropfen wie in “AJA”. Ich nutze Martin’s Musik sehr sehr oft um abzuschalten, die schönen Erinnerungen aus den letzten Jahren wieder aufleben zu lassen. Umso mehr habe ich auf diesen Release am 27. November hingefiebert. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Album in einer Pre-Order bestellt und ich habe mir jede einzelne Single wirklich zig Male angehört. Martins Musik war für mich in den Monaten omnipräsent. Mein Spotify-Rückblick wird zwar dieses Jahr monoton aussehen, aber musikalisch steckt hier viel drin. Denn die 10 neuen Songs von Martin Kohlstedt haben so viel magisches in sich. Durch die mantrenartige Spielweise am Klavier erscheint einem zwar auch jeder neue Song nach einem eigenen Muster. Aber dennoch schafft er es, dass mein Herz bei jedem Mal, wenn ich einen der Songs wieder in der Reihenfolge höre wie sie auf dem Album ist, aufgeht. Dass dann dieses Mal etwas düstere Songs wie “NOX” dabei sind, machen es für mich natürlich schwer, mich emotional zurückzuhalten. Es ist schier unmöglich. Selten habe ich in seiner Reinform so wundervolle Klaviaturen gehört.

Das gesamte Album ist in seiner Wohnung in Weimar entstanden. Während der Pandemie nahm er sich die Zeit, die Veränderungen und die Einschränkungen auf sich wirken zu lassen. Er kreierte in seinem Wahnsinn neue Songs, die diese Phase so gut einfangen können. Ein Hörspiel nur ohne Sprecher. Intim mikrofoniert, und wirklich nah am Instrument hören wir Martin das Klavier mal streicheln, mal einhämmern. Das Album nimmt dabei etliche Kurven. Genau so wie unser Jahr. Es gab nicht nur Negatives, nicht nur Positives. Seine Songs sind Gedanken. Sind Fetzen die einfach so im Raum stehen bleiben, unvollendet. Oder gar bis zur Perfektion zu Ende gebracht werden. Auch wenn das für ihn nicht gibt: Ein Ende, eine perfekte Pointe. Alles ist im Fluss und irgendwie arrangiert sich alles miteinander.

Für 2021 hoffen wir alle auf eine Besserung. Aber wenn ich mir “FLUR” so anhöre, bin ich heilfroh, dass wir vielleicht alle eine Veränderung der zeitlichen Wahrnehmung hinter uns haben und so etwas majestätisches entstehen konnte. Das Album setzt für mich auch einen Schlusspunkt in diesem Jahr, etwas versöhnliches. Es versetzt mich aber auch in Bewegung, neue Dinge in Angriff zu nehmen. Und damit sind wir genau an dem Punkt, was Musik eigentlich mit mir und vielleicht auch mit dir machen sollte.

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