Interview: GINA ÉTÉ

GINA ÉTÉ spricht im Interview über ihr zweites Album „Prosopagnosia“

GINA ÉTÉ im Interview; Fotocredit: Niclas Weber

GINA ÉTÉ hat Anfang Februar ihr zweites Album „Prosopagnosia“ veröffentlicht und darauf wird sie wieder gesellschaftskritisch und politisch. Noch dazu ist die neue Platte intimer und betont körperlicher.  Es wundert nicht, dass die Zürcherin sich bei der Lektüre des Bestsellers “Blutbuch” der non-binären Person Kim de l’Horizon wiedergefunden hat – in gewisser Hinsicht kann “Prosopagnosia” als musikalische Antwort darauf verstanden werden in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit und Menschlichkeit. Aber in eine Schublade passt die Singer-Songwriterin mit ihrer Komplexität trotzdem überhaupt nicht. Es ist in jedem Fall kompliziert und komplex. GINA ÉTÉ hat auf ihren neuen Songs echt viele Gesichter und vereint diese auf „Prosopagnosia“ kunstvoll zu einzigartigem Hybrid-Pop. Im Interview spricht sie mit uns über die neuen Tracks und ihre Botschaft in ihren Songs.

Your album Prosopagnosia is inspired by the neurological condition of face blindness. How did this concept influence not just the themes of the record but also its sonic and structural choices?

GINA ÉTÉ: „Da würde mich als allererstes interessieren – was hast du für eine Verbindung von Prosopagnosie und der Musik gehört? Denn ganz ehrlich – bewusst hab ich diese Verbindung nicht gestaltet. Ich wollte musikalisch ein Album machen, in dem ich meinen eigenen Stärken und Vorlieben – Viola und Stimme, romantische Harmonien, verträumte Klang-Flächen, elektronische Beats und filmisches Sound-Design – Platz einräume, und mich nicht um Genre-Grenzen kümmere. Zeitgleich habe ich mich mit Themata von äusseren Zuschreibung, Diskriminierung und Abgrenzung gegenüber diesen beschäftigt. Dass das nun thematisch wie musikalisch irgendwie ineinandergreift – das verschwimmende von Grenzen, das ausufernde, das Wiedererkennen und das anders Wiederkehrende – ist vielleicht Zufall? Künstlerische Intuition? Oder vielleicht ist es wirklich die Auswirkung, welche Prosopagnosie – beziehungsweise das Nicht-Wiedererkennen gewisser äusserer Zuordnungen – auf meinen Charakter, meine Glaubenssätze und somit meine musikalische Ausdrucksweise hat?“

Your music is often deeply political, tackling topics like sexism, racism, and social justice. How does Prosopagnosia expand on these themes compared to your debut album Erased By Thought?

GINA ÉTÉ: „In Erased By Thought ging es viel um äussere, politische Landesgrenzen, Migration, aber auch Klima und meine Rolle oder Aufgabe als weisse Schweizerin aus Akademiker*innen-Familie in diesen systemischen Konstrukten. In Prosopagnosia geht es vermehrt um persönliche Grenzen von Menschen und ihren Körpern, deren Grenzüberschreitung, Diskriminierungen anhand ihrer Körper, es geht um das «als Frau geboren werden», um Platz einnehmen oder Platz zugewiesen bekommen. Dies hat vor allem mit den politischen Ereignissen wie meiner Politisierung in den Album-Schreib-Jahren zu tun.“

The track “Your Opinion” addresses the societal pressures and expectations placed on women regarding their appearance, sexuality, and motherhood. Can you share more about the inspiration behind this song and what message you hope listeners take away from it?

GINA ÉTÉ: „Der weiblich beschriebene Körper, Mutterschaft und Abtreibung sind Themen, die mich selber in den letzten Jahren beschäftigen, weil ich und viele meiner Freund*innen in ein Alter kommen, wo diese Zuschreibungen relevant werden. Müttern wird in Ihre Mutterschaft und Erziehung reingeredet, wo Väter für jeden Care-Akt gelobt werden, von Abtreibung wird abgeraten, die Zugänge erschwert und sowieso werden unsere Körper andauernd beurteilt, kritisiert und ungefragt Meinungen und Ratschläge verteilt, wie diese besser zu sein hätten. Als wäre es common ground. Dabei sind es doch unsere Körper. Und wir haben uns Gedanken gemacht, bevor wir uns für etwas entschieden haben. Und wenn wir nicht nach einer weiteren Meinung oder Rat Fragen, dann soll diese Entscheidung respektiert und unterstützt werden. Your Opinion soll somit eine empowernde Hymne für alle diese Körper sein – damit wir in einem bittersüssen Ton auf eine ungefragte Meinung trällern können: “How come you too assume your opinion counts?”“

“F***you:you” is a bold and rebellious statement against patriarchy and societal privilege. What was your creative process in writing this song, and why did you decide to incorporate multiple languages into it?

GINA ÉTÉ: „Musikalisch ist der Song in einer Probe aus einer Basslinie entstanden, die mein Bassist Phillip Klawitter mitgebracht hat. Die Energie von Wut und Rebellion war in diesem initialen Musikstück drin. Ich habe dazu improvisiert und intuitiv nach einem Thema in mir gesucht, welches zu dieser Energie passt. Der Text hat sich über sehr lange Zeit vom Englischen übers Schriftdeutsche ins Schwizerdütsch entwickelt. Und bei dieser Entwicklung hab ich beobachtet, wie stark sich das Thema von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Gender sich mit der Sprache verändert. So fand ich es dringend, dies auch in verschiedenen Sprachen auszudrücken – und habe 7 spannende, europäische FLINTA*-Künstler*innen gefragt, ob sie eine Version in ihrer native tongue ausarbeiten würden. Und war absolut überwältigt, was dabei heraus kam!!!“

You have an impressive background as a musician, from composing string arrangements for artists like Sophie Hunger to playing with acts like Faber and Black Sea Dahu. How has this experience influenced your artistic vision on Prosopagnosia?

GINA ÉTÉ: „Tatsächlich entstand das Schreiben von Prosopagnosia, wie das Arrangieren und Mitspielen bei all diesen Artists zeitgleich in den letzten 4 Jahren und hat sich somit gegenseitig beeinflusst und befruchtet. Ich habe in dieser Zeit festgestellt, dass meine Roots in der klassischen Musik auch in einer IndiePop-Szene wertvoll sind und ich aus meinem Orchester-Background schöpfen kann. Und so fing ich an, für andere zu arrangieren und spielen und wollte zeitgleich in meiner Musik den Streichinstrumenten mehr Platz einräumen. Was schliesslich dazu geführt hat, dass in meinem aktuellen Live-Ensemble 3 singende Streicherinnen dabei sind!“

Your music defies categorization, blending elements of classical, jazz, electronic, and indie-pop. How do you approach genre in your work, and do you see Prosopagnosia as a continuation or a reinvention of your sound?

GINA ÉTÉ: „Prosopagnosia ist definitive eine Auflehnung gegen Genre-Grenzen. So wie ich Menschen wegen Prosopagnosie nicht immer anhand ihrer Gesichter irgendwo einordnen kann, so wie ich mein eigenes Gesicht und meinen eigenen Körper nicht irgendwo einordnen will, so möchte ich auch meine Musik nicht in eine Box packen. Ich will grenzenlos Musik machen, überall, wo es mich hinzieht. Und dies verändert sich konstant, so wie mein Gesicht, wie mein Körper, wie meine Person, wie meine Umwelt, wie meine Mitmenschen. Also ist es vielleicht einfach eine notwendige Veränderung meiner Musik, die einhergeht mit der Veränderung meiner Selbst.“

 

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